Oskar Negt im Gespräch mit Romain Leick

Romain Leick: Professor Negt, in Ihrem neuen Buch über den politischen Menschen und die Demokratie als Lebensform unterziehen Sie die gegenwärtige Verfassung unserer Gesellschaftsordnung einer radikalen Kritik. Es gebe geschichtliche Situationen, so schreiben Sie, in denen nur noch die Utopien realistisch seien. Wieso glauben Sie, dass wir in einer solchen Zeit leben?

Negt: Wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs und vor allen Dingen auch in einer Zwischenwelt der Ratlosigkeit. Die Probleme unserer Arbeitsgesellschaft spitzen sich derart krisenhaft zu, dass der innere Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens nicht mehr gesichert scheint. In dieser brisanten Lage zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht müsste die gesellschaftliche Phantasie eigentlich alle Kräfte darauf konzentrieren, Auswege zu suchen und zu finden. Stattdessen bildet sich eine zwiespältige Wirklichkeit, eine Aufteilung von Wirklichkeitsschichten.

Romain Leick: Sind Sie da nicht arg alarmistisch? Die Demokratie ist doch nicht in Gefahr, die Institutionen funktionieren, die Politik ist sich der Notwendigkeit von Reformen bewusst.

Negt: Das sind ja keine richtigen Reformen, sondern bestenfalls kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt. Vergleichen Sie das gegenwärtige Flickwerk mal mit den preußischen Reformen von Stein und Hardenberg nach der Niederlage gegen Napoleon, mit Bismarcks Sozialgesetzgebung oder mit der Domestizierung des Kapitalismus durch den Sozialstaat bei der Gründung der Bundesrepublik!

Romain Leick: Mit Verlaub: Das sind Wendepunkte der Geschichte, zum Teil erzwungen durch große Katastrophen, mit denen die Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir heute erleben, kaum vergleichbar ist.

Negt: Mein erkenntnisleitendes Interesse, meine Idee von der sozialen Verantwortung des politischen Menschen besteht gerade darin, solche historischen Unglückskonstellationen rechtzeitig aufzudecken und sie durch eingreifendes Denken zu verhindern, statt zu warten, bis die kollektive Katastrophe passiert ist. Insofern ist mein Buch auch als eine Art Notschrei gemeint.

Romain Leick: Nach dem Scheitern des Sozialismus ist aber kein neues Weltprojekt, kein radikal anderer Gesellschaftsentwurf zu sehen.

Negt: Ja, das bestimmende Merkmal der Krisenbewältigung ist heute die gleichsam betriebswirtschaftliche Rationalisierung der gesellschaftlichen Einzelbereiche. Die Realität, mit der wir konfrontiert sind, hat eine gespensterhafte Qualität. Ein Rettungsfonds von 480 Milliarden für angeschlagene Banken - das ist für mich eine negative Utopie. Noch vor zwei, drei Jahren hätte man sich so etwas nicht vorstellen können. Die Realitätslosigkeit dieses Umgangs mit der Krise ist eines der wesentlichen Motive, die mich umtreiben.

Romain Leick: Und welche positive Utopie setzen Sie dem entgegen? Trotz allem wieder eine marxistische?

Negt: Als Doktrin, als geschlossenes System unveränderlich verkündeter Wahrheiten, ist der Marxismus erledigt. Aber als kritische Methode enthält das Denken von Marx und Engels nach wie vor tragfähige Leitmotive. Der Tod der Utopien, der nach 1990 so lauthals gefeiert wurde, hat dazu geführt, dass wir es in Politik und Wirtschaft mit sogenannten Realisten, Tatsachenmenschen zu tun haben, die nur noch darauf verweisen, was nicht geht, so dass die Potentiale, die in der Gesellschaft stecken, nicht zur Entfaltung kommen.

Romain Leick: Das heißt, es bildet sich keine Kraft, die eine tragfähige Alternative aufbauen könnte? Droht die politische Ordnung an ihrem Stillstand zu scheitern, nicht an äußeren Mächten?

Negt: Die gegenwärtig vorherrschende Form des falschen, verdrehten Bewusstseins, das, was ich die Ideologie betriebswirtschaftlicher Rationalisierung mit ihrer Umverteilung nach oben und dem Sparzwang nach unten nenne, läuft den traditionellen Emanzipationsidealen von Aufklärung, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit zuwider. Dieser verkürzte, auf Anpassung an das Bestehende ausgerichtete Realitätssinn höhlt die politische Moral aus und gefährdet damit das Fundament unserer Demokratie.

Romain Leick: Professor Negt, in Ihrem neuen Buch über den politischen Menschen und die Demokratie als Lebensform unterziehen Sie die gegenwärtige Verfassung unserer Gesellschaftsordnung einer radikalen Kritik. Es gebe geschichtliche Situationen, so schreiben Sie, in denen nur noch die Utopien realistisch seien. Wieso glauben Sie, dass wir in einer solchen Zeit leben?

Negt: Wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs und vor allen Dingen auch in einer Zwischenwelt der Ratlosigkeit. Die Probleme unserer Arbeitsgesellschaft spitzen sich derart krisenhaft zu, dass der innere Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens nicht mehr gesichert scheint. In dieser brisanten Lage zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht müsste die gesellschaftliche Phantasie eigentlich alle Kräfte darauf konzentrieren, Auswege zu suchen und zu finden. Stattdessen bildet sich eine zwiespältige Wirklichkeit, eine Aufteilung von Wirklichkeitsschichten.

Romain Leick: Sind Sie da nicht arg alarmistisch? Die Demokratie ist doch nicht in Gefahr, die Institutionen funktionieren, die Politik ist sich der Notwendigkeit von Reformen bewusst.

Negt: Das sind ja keine richtigen Reformen, sondern bestenfalls kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt. Vergleichen Sie das gegenwärtige Flickwerk mal mit den preußischen Reformen von Stein und Hardenberg nach der Niederlage gegen Napoleon, mit Bismarcks Sozialgesetzgebung oder mit der Domestizierung des Kapitalismus durch den Sozialstaat bei der Gründung der Bundesrepublik!

Romain Leick: Mit Verlaub: Das sind Wendepunkte der Geschichte, zum Teil erzwungen durch große Katastrophen, mit denen die Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir heute erleben, kaum vergleichbar ist.

Negt: Mein erkenntnisleitendes Interesse, meine Idee von der sozialen Verantwortung des politischen Menschen besteht gerade darin, solche historischen Unglückskonstellationen rechtzeitig aufzudecken und sie durch eingreifendes Denken zu verhindern, statt zu warten, bis die kollektive Katastrophe passiert ist. Insofern ist mein Buch auch als eine Art Notschrei gemeint.

Romain Leick: Nach dem Scheitern des Sozialismus ist aber kein neues Weltprojekt, kein radikal anderer Gesellschaftsentwurf zu sehen.

Negt: Ja, das bestimmende Merkmal der Krisenbewältigung ist heute die gleichsam betriebswirtschaftliche Rationalisierung der gesellschaftlichen Einzelbereiche. Die Realität, mit der wir konfrontiert sind, hat eine gespensterhafte Qualität. Ein Rettungsfonds von 480 Milliarden für angeschlagene Banken - das ist für mich eine negative Utopie. Noch vor zwei, drei Jahren hätte man sich so etwas nicht vorstellen können. Die Realitätslosigkeit dieses Umgangs mit der Krise ist eines der wesentlichen Motive, die mich umtreiben.

Romain Leick: Und welche positive Utopie setzen Sie dem entgegen? Trotz allem wieder eine marxistische?

Negt: Als Doktrin, als geschlossenes System unveränderlich verkündeter Wahrheiten, ist der Marxismus erledigt. Aber als kritische Methode enthält das Denken von Marx und Engels nach wie vor tragfähige Leitmotive. Der Tod der Utopien, der nach 1990 so lauthals gefeiert wurde, hat dazu geführt, dass wir es in Politik und Wirtschaft mit sogenannten Realisten, Tatsachenmenschen zu tun haben, die nur noch darauf verweisen, was nicht geht, so dass die Potentiale, die in der Gesellschaft stecken, nicht zur Entfaltung kommen.

Romain Leick: Das heißt, es bildet sich keine Kraft, die eine tragfähige Alternative aufbauen könnte? Droht die politische Ordnung an ihrem Stillstand zu scheitern, nicht an äußeren Mächten?

Negt: Die gegenwärtig vorherrschende Form des falschen, verdrehten Bewusstseins, das, was ich die Ideologie betriebswirtschaftlicher Rationalisierung mit ihrer Umverteilung nach oben und dem Sparzwang nach unten nenne, läuft den traditionellen Emanzipationsidealen von Aufklärung, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit zuwider. Dieser verkürzte, auf Anpassung an das Bestehende ausgerichtete Realitätssinn höhlt die politische Moral aus und gefährdet damit das Fundament unserer Demokratie.

Romain Leick: Wie kann das Allgemeine, das heißt das Politische im weitesten Sinn, in die Gesellschaft, in die konkrete Erfahrungswelt der Menschen zurückgeholt werden?

Negt: Die Ansatzpunkte liegen dort, wo die Menschen leben und arbeiten, im Beruf, in der Nachbarschaft, in der Familie, in der Schule. In diesen Zwischeneinheiten lässt sich gesellschaftliche Verantwortung sinnlich erfahren, weil sie an das eigene Verhalten zurückgebunden werden kann. Politik findet nicht in einer von Beruf und Arbeitsplatz abgetrennten Sphäre statt, sie darf nicht den Berufspolitikern vorbehalten bleiben.

Romain Leick: Aber passiert nicht genau das in unseren hochentwickelten, komplexen Gesellschaften? Die Menschen wenden sich doch nicht zuletzt von der Politik ab, weil sie das Gefühl haben, die politischen Akteure handeln in einem Feld, das außerhalb ihrer Lebenswelt liegt, und operieren an Krisenherden herum, angesichts derer sie ziemlich ohnmächtig wirken.

Negt: Eben dann ist Gefahr im Verzug . Der Rückzug ins Private - die alten Griechen nannten das übrigens Idiotie, im Doppelsinn von Privatheit und Torheit, der unpolitische Mensch war der Idiot - verstellt den Blick auf Verschiebungen im Herrschafts- und Gesellschaftsgefüge. Die Bürger stumpfen ab, die Kräfte des Widerstands erlahmen, die Politik erodiert und entleert sich ihres Sinns.

Romain Leick: Wenn Politik Gefahrenprävention ist, das Löschen von Brandherden, der Erhalt des inneren und äußeren Friedens, dann ist die Bundesrepublik von einem Flächenbrand, gar einer innergesellschaftlichen Vorkriegssituation, weit entfernt, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie Griechenland oder vielleicht auch Frankreich, wo soziale Explosionen und Streiks an der Tagesordnung sind.

Negt: Ja, wenn ich im Ausland Vorträge halte, hält man mir gern entgegen, die Kritik, die du am Kapitalismus und an der bürgerlichen Gesellschaft übst, die gilt doch nicht für Deutschland, Deutschland ist die am besten verfasste und stabilste Demokratie in Europa.

Romain Leick: Ist Demokratie ohne Moral nicht lebensfähig?

Negt: Demokratie im Sinne einer funktionierenden Zivilgesellschaft ist mehr als eine Machttechnik. Sie beruht auf der Selbstbestimmung autonomiefähiger Bürger. Deshalb verstößt jede Behinderung oder Einschränkung dieser Autonomie und Selbstbestimmung gegen ihre moralische Leitnorm. Politik im demokratischen Prozess ist ein Stück Sinnverwirklichung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens.

Romain Leick: Wenn dagegen die Politikverdrossenheit zunimmt ...

Negt: ... gehen der so vernachlässigten und vergessenen Demokratie die echten Demokraten aus. Eine vergleichbare Entwicklung hat zum Untergang der Weimarer Republik geführt. Es kommt zu einer unmerklichen, aber folgenreichen Wirklichkeitsspaltung: Die subjektiven Orientierungen des Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen driften auseinander. Am Ende steht eine gebrochene Gesellschaftsordnung, in der, wie Sie zu Recht sagen, das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig erscheint - die Wahlen werden nicht gefälscht, die Korruption ist nicht endemisch, die Machtteilung wird respektiert, Recht wird gesprochen. Aber im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es, mit Ausbrüchen ist zu rechnen, in der Abwendung vom System entstehen politische Schwarzmarktphantasien - das Einfallstor für Populisten jeder Art.

Romain Leick: Und damit auch Vorurteile und Ressentiments, zum Beispiel gegen Zugewanderte?

Negt: Die Subkultur des Stammtischs, ja, und damit geht die Verantwortungsethik verloren, deren Postulat dem abgewandelten kategorischen Imperativ von Kant entspricht: Handele stets so, als ob von deinem Handeln - oder Nichthandeln - die Wendung des Schicksals der Welt abhinge. Wer das Gemeinwesen beschädigt, verletzt am Ende sich selbst.

Romain Leick: Wie wollen Sie denn der Flucht ins Private entgegenwirken? Dort sehen die Menschen, vor allem Jugendliche, die Freiheitsräume, die ihnen im großen Ganzen abhandengekommen sind.

Negt: Es mag ein bisschen verstaubt und anachronistisch klingen, aber ich sehe nur eine Möglichkeit: politische Bildung. Seit Jahrzehnten gehe ich der Frage nach, wie politisches Urteilsvermögen entsteht. Es gilt, das Besondere der je eigenen Lebenswelt mit dem Allgemeinwohl der Gesellschaft dialektisch in Zusammenhang zu bringen. Deshalb vertrete ich die These: Demokratie muss gelernt werden - immer wieder, tagtäglich, ein Leben lang. Die Menschen werden nicht als politische Wesen geboren. Der Mensch als Zoon politikon, als politisches Lebewesen im Sinne von Aristoteles, ist das Ergebnis eines ständigen Erziehungs- und Lernprozesses, nicht eine anthropologische Konstante.

Romain Leick: Gut, aber in die Banalität der Lebenspraxis übersetzt, hört sich das nach Erwachsenenbildung, Volkshochschule, Gewerkschaftsseminaren an. Also nicht gerade verlockend.

Negt: Von besonderem Eifer ist in dieser Hinsicht tatsächlich wenig zu verspüren, das räume ich sofort ein. Aber die Verbindung von Bildung und Demokratie ist einzigartig. Sachwissen, Berufsqualifikation ist mit jeder Gesellschaftsverfassung vereinbar, auch mit einer totalitären; politische Bildung dagegen nur mit einer demokratischen Ordnung, denn ihr Ziel ist der mündige, aufgeklärte Bürger, der es wagt, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen.

Romain Leick: Für den Philosophen ist der Lebensentwurf des fortwährend, bis ins hohe Alter hinein lernenden Menschen zweifellos faszinierend - gewissermaßen die Verwirklichung des sokratischen Ideals. Aber ist diese Vorstellung nicht selbst eine Utopie? Die meisten Menschen haben mehr als genug damit zu tun, sich beruflich weiterzubilden, um sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten zu können.

Negt: In der betriebswirtschaftlichen Logik ist politische Bildung mit keinem Mehrwert verbunden. Aber das Romain Leickt ein kurzfristiges Denken in einem verengten Gegenwartshorizont wider. Auf lange Sicht ist nur ein System stabil und friedensfähig, in dem die Menschen bei allem, was sie tun oder unterlassen, immer im Auge behalten, wie es das Gemeinwesen berührt.

Romain Leick: Im Grunde schwebt Ihnen für Ihren Idealstaat die Verbindung von Kant und Marx vor: Kategorischer Imperativ plus Sozialismus?

Negt: Ich habe bei meiner Emeritierung im Juli 2002 meine Abschiedsvorlesung über Kant und Marx gehalten.

Romain Leick: Bundeskanzler Gerhard Schröder saß unter den Zuhörern.

Negt: Für Kant hatte das Allgemeine den höchsten Status. Sozialistische Politik muss heute den schwierigen Weg von unten nach oben einschlagen, also vom Besonderen der eigenen Lebenswelt zum oft schwer zu begreifenden und deshalb drückenden Allgemeinen vorstoßen. Oder in den Worten von Marx im "Kommunistischen Manifest": Die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die freie Entwicklung aller. Dieser Sozialismus ist weder entehrt noch überholt, auch keineswegs abgegolten, um mit Ernst Bloch zu sprechen.

Romain Leick: Und? Ist es nicht tatsächlich so, dass der Erhalt des Sozialstaats das Lebensgesetz der Bundesrepublik ist?

Negt: Noch, vielleicht, im Unterschied zu Margaret Thatcher und Tony Blair in Großbritannien, die radikal mit dem Sozialstaat aufgeräumt haben. Aber auch unsere Gesellschaft kann umkippen, wenn die Politik keine für die Menschen sichtbare Lösung der Zentralprobleme der Arbeitsgesellschaft bringt. Die Form der kapitalistischen Warengesellschaft ist überholt, denn die Produktionsprozesse unterliegen einem Rationalisierungsgesetz. Die menschenleere Fabrik, in den achtziger Jahren für uns noch eine negative Utopie, ist Realität geworden. Wenn die industriellen Arbeitsplätze unweigerlich schrumpfen, wo bleiben dann die lebendigen Menschen, die dort gearbeitet haben? Wo und womit verdienen sie ihren Lebensunterhalt? Meines Erachtens geht es um eine grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von traditioneller Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeitsformen, die selbstverständlich die materielle Grundsicherung eines jeden gewährleisten müssen. Im Zuge dessen wird es unweigerlich auch zu einer Ausweitung und vor allem auch Aufwertung der Arbeitsplätze im Gesundheitsbereich kommen müssen. Wir müssen uns für die Schaffung von Arbeitsplätzen einsetzen, die direkt dem Gemeinwesen zugute kommen.

Romain Leick: Auch das gehört zum politischen Konsens: Dienstleistungen statt Fließbänder, also Arbeitsplätze in der Erziehung, im Gesundheitswesen, in Pflege und Betreuung.

Negt: Sicher, aber das würde voraussetzen, dass ganz andere Umverteilungsprozesse des gesellschaftlichen Reichtums erfolgen. Nur ein Bruchteil dieses Reichtums fließt in die Gesellschaft, in die Schaffung von Arbeitsplätzen zurück. Die Krisen werden zurzeit von denen bezahlt, die am ehesten aus der Gesellschaft ausgegliedert werden. Helmut Schmidt hat einmal formuliert: Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. Das trifft nicht mehr zu. Die Gewinne von heute erzeugen die Arbeitslosen von morgen.

Romain Leick: Sie definieren Utopie als die konkrete Verneinung der als unerträglich empfundenen gegenwärtigen Verhältnisse, mit der Perspektive und der Entschlossenheit, das Gegebene zum Besseren zu wenden. Aber wo und wer ist der Träger dieser Utopie?

Negt: Das ist das große Problem. Krisenzeiten sind nur dann Erkenntniszeiten, wenn sich kollektive Alternativen zum Bestehenden abzeichnen, ob die nun von Gewerkschaften, Parteien oder anderen Gruppierungen der Gesellschaft, etwa außerparlamentarischen Bewegungen, formuliert werden. Aber nichts dergleichen ist im Augenblick in Sicht.

Romain Leick: Die Partei Die Linke profitiert von diesem Vakuum.

Negt: Eine Linkspartei, die bei der Wahl des Bundespräsidenten durch Enthaltung dem Kandidaten der Konservativen zum Sieg verhilft - ich bitte Sie, da ist die pure Borniertheit am Werk.

Romain Leick: Was ist mit der SPD, aus der Sie selbst mal wegen Linksabweichung ausgeschlossen wurden? Steht sie vor einer Wiederbelebung?

Negt: Ich trete ja immer für einen starken linken Flügel der SPD ein. Ich war damals, 1961, nach meinem Ausschluss verletzt und beleidigt und fand dann wieder ein sehr gutes Verhältnis zur SPD, ohne noch einmal Mitglied zu werden. Die Hartz-Reformen waren für die SPD eine Katastrophe, ein Bruch mit ihrer Gerechtigkeitstradition. Das wird ihr noch ein Jahrzehnt anhängen. Wenn man vor einer Dreiteilung der Gesellschaft steht, mit einem krisengesicherten Drittel, einem zweiten, wachsenden prekären Teil und einem dritten, in dem immer stärkere Abkoppelungsbewegungen stattfinden, dann kann man dieser Entwicklung nicht mit Hartz-Reformen dieser Art kommen.

Romain Leick: Dabei gehören Sie zum Freundeskreis von Gerhard Schröder, aus gemeinsamen Hannover-Zeiten. Sie konnten ihn beraten, er suchte gern das Gespräch mit Ihnen. Bestand da nicht die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen?

Negt: Es war meine Hoffnung, das Gespräch zu suchen und ihn zu überzeugen. Jedenfalls habe ich offiziell nie etwas anderes gesagt als privat. Aber ein Bundeskanzler neigt wohl immer zu den Tatsachenmenschen und nicht zu denen, die in Abwägung von Vernunft und Wirklichkeit mit Hegel sagen, umso schlimmer für die Tatsachen.

Romain Leick: Welche Rolle spielen heute noch die öffentlichen Intellektuellen? Politiker schmücken sich gern mit ihnen, hören aber selten auf sie.

Negt: Die Beratertätigkeit von Philosophen in der Politik hat ja eine tragische Geschichte. Platon ging nach Syrakus zum Tyrannen Dionysos, um seine Gesellschaftsutopie zu verwirklichen. Das Experiment scheiterte bekanntlich schmählich, Platon landete auf dem Sklavenmarkt und musste von einem Schüler freigekauft werden. Und der Preußenkönig Friedrich der Große spottete nach seinen Erfahrungen mit Voltaire: Wenn ich eine Provinz bestrafen will, schicke ich ihr einen Philosophen als Gouverneur.

Romain Leick: Im Spannungsfeld von Handeln und Denken, von Machtrealität und normativer Utopie zieht der Philosoph unweigerlich den Kürzeren?

Negt: Ludwig Marcuse hat in seiner wunderbaren Studie "Der Philosoph und der Diktator" über Platon geschrieben: "Das Erbauliche an seinem Leben ist nicht, was er erreicht hat, sondern was er versucht hat. Das Traurige an unserer Zeit ist aber nicht, was sie nicht erreicht, sondern was sie nicht versucht. Im Versuchen aber liegt der echte Idealismus."

Romain Leick: Sie sind seit mehr als 40 Jahren mit Forschung, Lehre und ganz besonders auch mit Gewerkschaftsschulung und Erwachsenenbildung beschäftigt. Wie würden Sie nach all diesen Erfahrungen heute Ihre Gemütsverfassung beschreiben? Pessimistisch oder doch eher optimistisch?

Negt: Da antworte ich so ähnlich wie Antonio Gramsci in seinen "Briefen aus dem Kerker": Was Theorie und Analyse betrifft, bin ich Pessimist, denn der Intellektuelle, der politische zumal, hat die Aufgabe, auch die schlechteste Möglichkeit miteinzukalkulieren. Als praktischer Mensch bin ich Optimist, denn es gibt kein System ohne Risse. Diese gesellschaftlichen Risse zu suchen und an ihnen praktisch einzusetzen, das Unlegitimierte sichtbar zu machen und alternative Entwürfe zu entwickeln, das ist mein Credo und mein Programm.

Romain Leick: Die linke Perspektive ist nicht die marxsche Revolution, sondern mit Max Weber das Bohren von harten Brettern?

Negt: Die Zeit der Barrikaden ist vorbei, Revolution ist ein Prozess, der nicht abschließbar ist. Was bloße Reform ist und was revolutionäre Veränderung, ist so einfach nicht zu unterscheiden. Ich verbinde den Revolutionsbegriff mit Strukturreformen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ohne kleine Schritte, ohne Veränderung im Alltag, ob in der Schule oder in der Familie, gibt es gar keine nachhaltige Entwicklung. Jeder ist aufgefordert, Risse und Widersprüche wahrzunehmen und sie auf ihre Veränderungsmöglichkeiten hin zu untersuchen, um sich dann für Alternativen stark zu machen. Das verstehe ich als Beitrag zur Verbesserung der Welt.

Romain Leick: Professor Negt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,710880,00.html

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Texte: Negt