Richard Sennett im Gespräch mit Falk Richter: Die Welt als Soap Opera

Über die Inszenierung von Macht, Politik und Globalisierungskritik auf den Bühnen des Weltwirtschaftsforums in Davos, in den Massenmedien und im Theater.

Richard Sennett, Sie waren schon Teilnehmer am Weltwirtschaftsforum
(Wef) in Davos. Wie ist das drinnen, wenn man weiss, dass draussen Hunderte von
Polizisten und Demonstranten gegeneinander kämpfen?

Richard Sennett: Ich war vor vier Jahren das letzte Mal dabei.
Saskia Sassen (setzt sich einen Augenblick zu Sennett aufs Sofa): Wir
haben aufgehört hinzugehen, als die Proteste angefangen haben.

Warum?

Sennett: Ich fühle mich denjenigen, die dagegen protestierten, näher
als den Teilnehmern. Was die Kritiker sagen, ist legitim.

Falk Richter, wie stehen Sie zum Weltwirtschaftsforum?

Falk Richter: Ich wurde noch nie eingeladen (lacht). Während des
Davostreffens vor zwei Jahren sass ich in Zürich mit dem englischen
Autoren Martin Crimp zusammen und wir diskutierten über Richard Sennetts Buch
«Der flexible Mensch» und über die Frage, wie man diese flexiblen
Biografien, die der neue Kapitalismus hervorbringt, für die Bühne darstellbar machen kann. Biografien von Menschen, deren Problem es gerade ist, keine Erzählung für ihr Leben und Arbeiten zu finden - ausser wirren und fluchtartigen
Wechseln und Brüchen in der eigenen Geschichte. Um nach dem Gespräch vom Zürcher Pfauen zum Schiffbau ans andere Ende der Stadt zu gelangen, mussten wir
zu Fuss gehen, weil der öffentliche Nahverkehr eingestellt wurde. Die
Stadt glich einem Krisengebiet auf CNN. Auf unserem Weg kamen wir in die Nähe
eines Demonstrationszuges und wurden gemeinsam mit einem Haufen
unbeteiligter Touristen von der Polizei mit Tränengas beschossen. Die
Polizei reagierte so aggressiv auf weniger als hundert Demonstranten, dass
diese später in der Nacht regelrechte Racheakte begingen, Autos anzündeten,
Scheiben einschlugen. Der Staat verhielt sich wie ein Polizeistaat, da
die Wirtschaft sich in Gefahr wähnte, eine Art Wirtschaftsdiktatur.
Martin Crimp, der zum ersten Mal in der Schweiz war, wusste überhaupt
nicht mehr, in welchem Land er eigentlich war. Das ist auch eine Folge der
Globalisierung: Die Krisengebiete wandern mit, wenn die
Wirtschtschaftsführer für ihre Treffen anreisen. Seattle, Davos, Genua,
Prag - die Bilder ähneln sich.

Bilder, die Sie als Regisseur beschäftigen?

Richter: Vor kurzem wurde ich eingeladen zum jährlichen Kongress der
deutschsprachigen Theaterwissenschaftstudenten, um dort über mein Stück
Peace, das von den modernen, sogenannt virtuellen Kriegen der Nato
handelt, zu sprechen. Dabei gab es auch eine Podiumsdiskussion über die Ästhetik
des neuen Widerstandes. Wir haben uns dabei Videoaufnahmen von den
Demonstrationen und Polizeieinsätzen in Davos, Prag und Genua
angesehen. Da waren zum Beispiel Clowns, die standen direkt vor der Polizeiabsperrung ein paar Kilometer vor Davos und machten kleine Performances zu den schlechten Arbeitsbedingungen und der schlechten Nahrungsmittelqualität bei MacDonalds. Das war sehr theatralisch.

Sennett: Alle Massenproteste haben etwas von einem Theater.

Richter: Dort trafen zwei Systeme aufeinander, die noch keine
Kommunikationsebene miteinander gefunden haben. Die Feuerschlucker und
Clowns führten ihre wirklich harmlosen Performances auf und wurden
mehrfach von der Polizei aufgefordert, die Strasse zu räumen. Anstatt zu gehen,
riefen sie immer wieder «I want to go to the World Economic Forum,
please let me in, I have an invitation, I am a world leader». Daraufhin wurden
sie mit Tränengas und Wasserwerfern weggeschossen. Die Polizisten waren
überfordert, sie konnten in diesen Gauklern nur getarnte Terroristen
erkennen. Und die Demonstranten sahen sich durch die prügelnden
Polizisten in ihrer Auffassung bestätigt, dass sie gegen eine Wirtschaftsdiktatur,
gegen einen Polizeistaat kämpften und sich in einem Widerstandskampf
befänden.
Da waren auch Bilder von Demonstranten in Genua, die sich als
Uno-Soldaten verkleidet hatten. Die haben auf sehr geschickte Weise verwirrende
Medienbilder inszeniert: Italienische Polizisten verprügeln
Uno-Soldaten.
Andere Bilder aus Genua erinnerten eher an Horrorfilmsequenzen, da
wurde den Podiumsteilnehmern regelrecht schlecht: Da sah man ganz junge Männer,
noch nicht zwanzig, blutüberströmt, auf dem Boden liegen und man hörte, wie
sie mit dünnen Stimmen die italienischen Polizisten anflehten, sie sollten
aufhören, zu schlagen. Die hörten aber nicht auf, die waren völlig
entfesselt. In Genua kam die Polizei regelrecht in eine Art
Rauschzustand, da war Italien kein Rechtsstaat mehr.

Sennett: Diese Treffen symbolisieren das Ablösen der Demokratie als
Staatsform durch den Neoliberalismus. Der Bürger hat die
selbsternannten «World leader» zu akzeptieren, er hat kein Mitspracherecht, er wird
nicht gefragt. Er hat nur noch die Chance, aufzubegehren. Zuletzt wird er
zusammengeschlagen.

Richter: In Genua ist die Situation eskaliert. Mit dem Ergebnis, dass
auch bürgerliche Medien mittlerweile differenzierter über die Anliegen der
Globalisierungskritiker berichten.

Sennett: Was mich in Davos wahnsinnig gestört hat, war, dass man den
Jungen unterstellte, dass sie pauschal gegen die Notwendigkeit zur
Modernisierung protestieren. Das ist unredlich.

Richter: Das neoliberale System inszeniert sich als eines, zu dem es
keine Alternativen gibt. Globalisierung wird bewusst schwammig mit
Fortschritt gleichgesetzt. Wer Einwände hat, gefährdet angeblich den Standort
Deutschland, den Standort Schweiz und ist ein ewig Gestriger und ein
Gegner des Aufschwungs.

Sennett: Globalisierung ist nicht ein Paket von Notwendigkeiten,
sondern von ökonomischen Handlungsweisen. Und die können geändert werden. Jede
einzelne Handlungsweise lässt sich diskutieren und korrigieren - es ist eben
nicht so, dass man sie alle pauschal akzeptieren muss. Wie diese
Forumsteilnehmer über Globalisierung reden, ist sehr eigennützig. Sie gebärden sich als Erneuerer, als die, die den rechten Weg kennen.
Bedenken und Einwände nehmen sie nicht einmal zur Kenntnis. Dabei haben
die Globalisierungskritiker mittlerweile einen ganz konkreten Forderungskatalog, der auch realpolitisch umsetzbar wäre: Auflösung der Steueroasen,
Tobinsteuer um nur ein paar zu nennen.

Was kritisieren Sie konkret?

Sennett: So wie die Globalisierung zurzeit funktioniert, macht sie die
Wohlhabenden reicher und die Armen ärmer. Es gibt zwar Aspekte der
Globalisierung, welche ärmeren Gruppierungen zugute kommen, zum
Beispiel Immigranten. Sie hindert aber andere am Fortkommen. In Europa und in
den USA betrifft das vor allem Leute in der Mitte der Gesellschaft. Meist wird
das Problem als Kampf zwischen Arm und Reich dargestellt. Doch es verhält
sich viel komplexer.

Wie trifft es den Mittelstand?

Sennett: Sein Reichtum nimmt ab und der Zugang zum Arbeitsmarkt von
qualifizierten Stellen ist zunehmend beschränkt. Das beobachte ich in
Deutschland gleichermassen wie in Amerika. In den USA hat das
Einkommen der Mittelschicht in den letzten zwanzig Jahren stagniert.
Auch der Wohlfahrtsstaat, der vor allem dem Mittelstand dient, wird schwächer,
zum Beispiel das Gesundheitssystem. Das ist die wirtschaftliche Seite.
Auf kultureller Ebene zeigen meine Studien, dass sich die Leute persönlich
dafür verantwortlich fühlen, dass sie nicht vom Fleck kommen. Sie
fühlen sich als Versager - statt dass sie das wirtschaftliche System in Frage
stellen. Das ist schlimm.

In Ihrem Essay «Strasse und Büro: Zwei Quellen der Identität» beschreiben Sie den Werteverlust und die damit verbundene Identitätskrise der Leute.
Als eine Ursache nennen Sie die mangelnde Kontinuität im Arbeitsleben.
Falk Richter, Sie leben als Regisseur, der überall in Europa inszeniert,
freiwillig ein unstetes Leben.

Richter: Ich gehöre aber nicht zu den Leuten, die Richard Sennett in
seinen Büchern beschreibt, denn ich wähle mir ja freiwillig diesen Arbeits-
und Lebensstil. Ausserdem habe ich mir so etwas wie einen Zusammenschluss
enger Freunde, eine Art mobiler Familie, geschaffen, mit denen ich arbeite.
Wir arbeiten zwar an unterschiedlichen Orten, fliegen viel durch die
Gegend, kommunizieren zeitweise nur über Handy und Internet, aber bleiben
trotzdem zusammen. Für mich bedeutet das, dass ich zwar ständig meinen Wohnsitz
und Arbeitsplatz wechsle, aber an jedem neuen Ort meine mobilen
Zusammenhänge etablieren kann. Das ist eine Gruppe von Künstlern mit denen ich zu
einem grossen Teil schon bei meiner ersten Inszenierung in Hamburg
zusammengearbeitet habe.

Sennett: Die Tatsache, dass Sie als Deutscher überall auf der Welt
arbeiten, hat noch nichts mit Globalisierung zu tun. Wenn aber eine
internationale Investorengruppe das Schauspielhaus kaufen würde und für
jeden Franken Investition Gewinn erwartete, könnte man von globalem
Kapitalismus sprechen.
Heute werden alle Aspekte des modernen Lebens mit diesem Begriff
erklärt. Globalisierung ist aber in erster Linie eine ökonomische Praxis, die
Auswirkungen auf die Menschen hat. Ein Beispiel dafür ist der Export unserer klassischen Kultur in den Osten: Die besten amerikanischen Musiker migrieren nach Asien. Dort ist nicht nur das Interesse für klassische Musik immens, sondern die Musiker werden auch sehr gut bezahlt. Saskia und ich haben einen Freund, der in Japan
musiziert. Er wird dort wie ein Rockstar behandelt. In den USA besuchen hingegen
nur noch alte Leute klassische Konzerte.

Richter: Was mich am Thema Globalisierung beschäftigt, ist die Suche
nach einer Erzählweise, die diesem Phänomen gerecht wird und die
Auswirkungen auf das Leben des einzelnen beschreiben kann. Meine Figuren sind in einer globalen Massenkultur grossgeworden, Kinder des Neoliberalismus, der
oft den Pop und das Prinzip «Fun» als Transportmittel für neoliberale Messages
benutzt. In Gott ist ein DJ zeige ich zwei junge Menschen, die sich
selbst als Produkt vermarkten. Sie sind immer online, so dass sie ständig
überwacht werden. Sie sind Werbeträger, Medienkünstler, DJs, Moderatoren, sie
üben all diese Berufe gleichzeitig aus und wechseln Jobs und Identitäten wie
Kleidungsstücke, die in Mode und aus der Mode kommen. Sie leiden
darunter, weil sie zwischen Markt und Privatsphäre nicht mehr unterscheiden
können, ihr gesamtes Leben ist Arbeit, Verkaufsstrategie, ist Marketing und
Imagekonzept. Sie beuten sich selbst aus, verlieren den Überblick über
ihre Gefühlswelt, wissen nicht mehr, was echt und was fake ist. Aber sie
haben auch Spass daran, denn schlimmer wäre es, überhaupt nicht in den Medien
vorzukommen. Ihr Kampf besteht darin, trotzdem ein authentisches Leben
zu behaupten. Sie befinden sich also unentwegt in einem paradoxen
Widerstand gegen das System, dessen Teil sie sind und das sie dadurch aus dem
Gleichgewicht bringen wollen, indem sie seine Grenzen sprengen, seine
Beschleunigung bis zum Exzess überdrehen. «Bestimme ich den Markt oder
bestimmt er mich», das ist der Lebenskampf.

Wie zeigt sich das Globale in Ihren Stücken?

In Electronic City, meinem neusten Stück, wissen die Hauptfiguren nicht
mehr, in welcher Stadt sie gerade sind. Es sind Businessmänner, die
sich nur auf Flughäfen und in internationalen Hotelketten aufhalten, öffentliche
Räume, die überall auf der Welt gleich aussehen. Sie fusionieren,
flexibilisieren, rationalisieren, sie haben jede Vorstellung von Zeit
und Raum verloren, sie sind sich auch nicht mehr sicher, ob sie ein
bestimmtes Filmskript zur Grundlage für ihr Leben haben, ob sie sich selbst
spielen, oder ob das, was sie da machen, tatsächlich ihr Leben ist. Sie haben
keinen konkreten Bezug zu ihrer Arbeit, sie spekulieren auf Kursschwankungen,
in ihren Köpfen sind nur noch Zahlen und Codes, die sich mit nichts
Konkretem mehr verbinden. Sie können nicht sagen, was eigentlich das Ergebnis
ihrer Arbeit ist, es ist ein diffuses Zahlenrauschen der globalen
Finanzmärkte, sie können nicht mehr sagen, was sie glücklich oder unglücklich macht,
sie treiben sich mit guten Psychopharmaka zu Höchstleistungen an,
irgendwann werden sie per Herzinfarkt schlagartig aus dem Verkehr gezogen.

Sennett: Wie kann das Theater die komplexe internationale
Wirtschaftsvernetzung beschreiben?

Richter: Die britische Autorin Caryl Churchill beschreibt in In weiter
Ferne eine surrealistische Apokalypse, einen Zustand des totalen Krieges, der
kein Krieg der Nationen mehr ist, sondern sich auf alles bezieht: Feindliche
Übernahmen in der Wirtschaft, Kämpfe kleinster Splittergruppen
innerhalb einer Gesellschaft, und alle Gruppierungen sind miteinander verbunden
durch ein Netz von Allianzen, welche sich ständig verschieben. Die Menschen befinden sich in einem paranoiden Zustand, weil sie immer neu herausfinden müssen, wer wann mit wem auf einer Seite ist, wer mit wem fusioniert hat oder wer seine politische Ausrichtung gewechselt hat. Die Tiere, die Menschen, die Elemente, alles steht miteinander im Krieg. Man weiss nicht, welche Firma in Singapur mit welcher amerikanischen Firma aus einer
völlig anderen Branche verhängt ist und wie sich das auswirkt auf einen Broker
in Japan.

Sennett: Die Brechtschen Verfremdungseffekte funktionieren heute wohl
nicht mehr.

Richter: Nein. Die Verfremdung ist Teil des Alltags geworden. Sie
findet vor allem im Fernsehen statt: Die Werbeästhetik verfremdet unser Weltbild.
Auch CNN zeigt immer nur ein gesäubertes Bild unserer Welt - die angeblich
unsichtbaren, reinen Kriege ohne Opfer. Ebenso die Vorabendserienästhetik:
Diese immerglatten Gewinnertypen ohne jeglichen Bruch in der Biografie.
Die Soaps tun so, als ob das Leben aus kleinen Konflikten bestehe, die
problemlos gelöst werden können. Die Realität sieht aber anders aus.
Die Menschen fühlen sich ohnmächtig angesichts von Massenverarmung,
verheerender medizinischen Versorgung für die Mehrheit der Weltbevölkerung,
Umweltkatastrophen, sich globalsierender Terrorismus...

Sennett: ...Probleme, für die bislang keine Regierung und kein
Weltwirtschaftsforum auch nur ansatzweise Lösungskonzepte bereithält.

Richter: Aber der Wef inszeniert sich als eine Institution, die an
Lösungen arbeitet.

Wie haben Sie das erlebt, Richard Sennett?

Sennett (lacht): Ich habe das Wef tatsächlich als eine Art von Theater
erlebt. Saskia und ich waren die Schauspieler für die Medien und das
Publikum draussen. Die Männer, die dort Geschäfte abgewickelt haben,
interessierten sich keinen Deut für die Diskussionen unter den Intellektuellen. Ich
kann dazu eine Anekdote erzählen: Der Mann, der Enron als Verwaltungsrats-
und Geschäftsvorsitzender geleitet hat, Kenneth Lay, sass an einem dieser
eleganten Dinners neben mir am Tisch. Ein furchteinflössender Typ. Er interessierte sich nicht für mich, weil ich offensichtlich nichts zu verkaufen hatte und sass schweigend da,
während ich mich mit anderen Leuten unterhielt. Irgendwann fragte er mich
schliesslich, was ich mache. Ich erklärte ihm, dass ich Bücher schreibe, forsche und
lehre. Irritiert erkundigte er sich, was ich in Davos am Forum mache.
Ich anwortete, ich sei eingeladen. Sein Kommentar: Ah ja, da gibt es ja
diese Events. Damit war die Rollenverteilung klar. Er, der Topleader in der
Hauptrolle, ich der Hofnarr fürs Rahmenprogramm. Ich muss gestehen,
dass ich jetzt seine Demontage mit Genugtuung beobachte.
Die Mächtigen dieser Welt brauchen Bühnen wie das Wef. Nicht nur, um
sich der Weltöffentlichkeit, sondern auch, um sich gegenüber den anderen
Mächtigen als Leader zu inszenieren. Sie brauchen die Demonstranten,
die sie in die Ecke der Modernisierungsfeinde abschieben können und sie
brauchen die Kompromissbereiten, die trotz Zweifeln am Forum teilnehmen. Erst durch
ihre Präsenz werden sie wichtig.

Auch die Demonstranten verdanken dem Forum ihren Auftritt. Um die
Wirtschaftselite von der Bühne ins Publikum zu holen, müssten sie eine
andere Form des Protests finden. Welche?

Richter: Die Globalisierungskritiker sind bereits übergegangen von
einer Protestbewegung zu einer weltweit vernetzten Gruppierung, die sich
durch alle Bevölkerungsschichten zieht und Gegenperspektiven entwickelt. Im
Januar 2001 und im Februar 2002 gab es das Weltsozialforum im
südbrasilianischen Porto Alegre als Gegentreffen zum Wef. Dort wurden Konzepte entwickelt für eine andere Globalisierung, etwa die Tobinsteuer, eine Steuer auf
Transaktionen auf den Devisenmärkten, die das Spekulieren auf
Kursschwankungen verhindern soll. Ich glaube, der Machtkampf wird sich in den nächsten Jahren verschärfen, immer weniger Bürger werden diese selbsternannte Weltregierung akzeptieren.

Sennett: Es gibt Konzepte, den Welthunger zu beheben, es gibt Konzepte,
die eine andere Weltordnung wollen, als die momentane, in der eine
Milliarde Menschen in Wohlstand und fünf Milliarden in Armut leben. Es ist ganz
offensichtlich, dass die Leute, die beim Wef sitzen und ihre Deals
abwickeln, nicht an diesen Lösungen interessiert sind.

Trotz alternativen Konzepten werden die Kritiker in der Öffentlichkeit
eher als Randalierer wahrgenommen.

Richter: Wie der Protest der Demonstranten wahrgenommen wird, welche
Themen in den Vordergrund gerückt werden, definieren die Massenmedien. Nur
schon der Begriff «Globalisierungsgegner», den sie verwenden, ist irreführend.
Wieso sind die generell gegen Globalisierung, fragen sich die Leser und
Zuschauer, dann sehen sie die üblichen Bilder: Autos brennen, der schwarze Block
randaliert. Diese Bilder werden gesendet, um die Inhalte, die die
Kritiker haben, zu überblenden mit dem Image von Gewalt und Chaos. Das ist ein
wichtiger Teil der Gesamtinszenierung: Besonnene gepflegte Herren von
Welt auf Seiten des Forums, durchgedrehte Randalierer, Bauerndeppen auf der
anderern Seite.

Sennett: Das ist wahr. Ich glaube, dass sich die Proteste künftig
vermehrt gegen die Medien richten werden. Es muss gelingen, die Kritik
differenzierter an die Öffentlichkeit zu bringen. Sonst hat man dieses
Gut-Böse-Schauspiel, das zu einfach ist. Meiner Meinung nach müssen wir
uns auch überlegen, gegen wen wir demonstrieren. Der beste Weg, etwas zu
erreichen, ist Protest gegen staatlichen Institutionen. Leute wie der
ehemalige Enronboss sind hoffnungslose Gegner, die ändern sich nicht.
Aber politische Institutionen wie die Weltbank oder der Internationale
Währungsfonds sind lernfähig. Die brutalen Polizeieinsätze in Genua
haben viele Leute aufgeschreckt.

Wie ist denn Protest gegen die Medien möglich? Die Kritiker des
rücksichtslosen Kapitalismus sind genauso auf Öffentlichkeit angewiesen
wie Wirtschaftselite und Staatsmänner. Dazu kommt, dass Chefredaktoren enge
Beziehungen zu dieser Elite pflegen.

Richter: Letzteres ist ein grosses Problem. Die Erfahrung, die ich mit
Chefredaktoren gemacht habe, ist, dass sie ähnlich wie
Bundestagsabgeordnete sehr schnell beeindruckt sind von mächtigen Menschen aus der Wirtschaft und denen sehr gerne zu Diensten sind. Das Problem ist, dass die Zeitungen abhängig sind von der Wirtschaft, von den Werbeeinnahmen und so nur
begrenzt Kritik üben dürfen.
Leider ist es so, dass sich nur durch Katastrophen Risse in der
medialen Festung ergeben. So schrecklich das ist, aber über die Folgen des
Embargos gegen den Irak, über die Übergriffe der israelischen Armee gegen die
palästinensische Zivilbevölkerung, überhaupt über die ganze islamische
Welt und deren Sicht auf die amerikanische Aussenpolitik wurde erst als
Reaktion auf die Terroranschläge vom elften September ausführlich in den
Mainstreammedien berichtet. Über die Globalisierungskritiker wurde erst
differenziert berichtet, nachdem in Genua ein Demonstrant erschossen
wurde.
Als Folge der Geiselnahme in dem Musicaltheater in Moskau wurde über
den Krieg Putins gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung berichtet.
Solche Ereignisse sind es momentan, die bewirken, dass plötzlich Informationen
an die Öffentlichkeit dringen. Ein terroristischer Anschlag wird heute nur
noch verübt, damit ein bestimmtes Anliegen mediale Aufmerksamkeit bekommt.
Anders glaubt man, die Chefredaktoren nicht mehr bewegen zu können. Die
Leidtragenden sind die Opfer dieser entsetzlichen Anschläge.

Eine Auswirkungen der Globalisierung, welche viele Menschen in
Mitteleuropa beschäftigt, ist die Zuwanderung. Viele Schweizer, auch
Jugendliche, fühlen sich bedroht von den Migranten. Sie sind verunsichert.

Sennett: Dieses Phänomen kennen wir auch in den USA. Die meisten der
konservativen Gruppierungen sind junge, weisse Männer zwischen 18 und
35 Jahren. Die Migration ist tatsächlich eine grosse Herausforderung. Was
in meinen Augen nicht die Lösung sein kann, sind Gettos. Die Türken in
Berlin werden zum Beispiel einfach ausgeschlossen.

Richter: Allmählich werden sie fester Bestandteil der Gesellschaft. Es
gibt deutsch-türkische Politiker, überall türkisches Essen, türkische Musik
in den deutschen Hitparaden und so weiter. Deutschland hat, um es mal
vorsichtig auszudrücken, seit dem zweiten Weltkrieg ein grosses Problem
mit der eigenen Identität. Die deutsche Identität ist untrennbar mit einer
geliehenen amerikanischen Identität vermischt, man ist hier so eine Art
amerikanisierter Europäer, der zufällig in Deutschland geboren wurde.
Deshalb kommen viele gesellschaftliche Entwicklungen aus den USA. So
hat sich zum Beispiel die dritte Generation der Türken in Deutschland von
der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA inspirieren lassen. Sie
nennen sich selbstbewusst «Kanaken», was ursprünglich ein Schimpfwort war wie
«Nigger» und definieren das jetzt neu im Sinne von «es ist cool, Kanak
zu sein». Plötzlich hat das etwas von Hip Hop und South Central, wenn man
in Altona oder Kreuzberg geboren wurde.

Sennett: Aber das ist ja völlig retro, sich nur in Hinblick auf den
ehemaligen Unterdrücker zu definieren. Die Situation für die Schwarzen
in den USA ist inzwischen viel komplexer als die Polarität weiss-schwarz.
Der Konflikt hat sich ausgeweitet auf Koreaner und Schwarze, Latinos und
Schwarze, Latinos und Asiaten. In New York City sind die grössten ethnischen Spannungen die zwischen den Schwarzen und den Koreanern.
In ein paar Jahren werden die grossen europäischen Städte mit einer
enormen Zuwanderung von sehr armen Leuten aus Ost- und Südeuropa
konfrontiert werden, die nicht nach unserem Wertesystem leben. Dann stellen sich
ganz andere Fragen: Wie fühlen sich Türken im Vergleich zu Slowaken, die
beide in Deutschland oder einem anderen europäischen Land leben. Wir werden in
einer stark multiethnischen Gesellschaft leben. Unsere traditionellen
Vorstellungen von Unterschieden gelten nicht mehr. Das verunsichert
natürlich sehr.

Richter: Deshalb sind Politiker wie George W. Bush wohl so populär.
Bush spricht in seinen Reden von der Welt, als ob sie eine Soap-Opera wäre:
Wir Amerikaner sind gut, die anderen sind böse. Wir guten halten zusammen
gegen den Rest der Welt. Lassen sich die Amerikaner auf diese Weise wirklich
von innenpolitischen Problemen ablenken?

Sennett: Absolut. Es ist eine vereinigende Lüge.

Richter: Ich würde es Fiktion nennen.

Sennett: Das Problem an dieser Fiktion ist, dass sie statisch ist. Sie
suggeriert: So sind wir. Es gibt keine Entwicklung der Figuren, keine
Entwicklung in der Story. Die Rollenverteilung ist unverrückbar: Die
Amerikaner sind gut, wenn die Story beginnt und sie sind gut, wenn sie
aufhört. Die Tatsache, dass sie zwischendrin Massenvernichtungswaffen
über Afghanistan oder Irak abgeworfen haben, ändert daran nichts.

Richter: Damit leugnet Bush Geschichte. Er tut so, als ob Bin Laden aus
dem Nichts aufgetaucht wäre. Er war ja mal ein Verbündeter der USA, so wie
Saddam Hussein auch.

Sennett: Auch einen Teil der amerikanischen Geschichte radiert Bush
aus. Das Gefühl, im Vietnamkrieg etwas falsch gemacht zu haben, beschäftigt
viele Amerikaner. Plötzlich wird das weggewischt, als hätten wir auch da
richtig und gut gehandelt. Mit seinen Behauptungen betrügt Bush sein Volk.

Ist das eine Aufgabe des Theaters heute: Den Menschen die Erzählung des
Lebens in ihrer Widersprüchlichkeit zurückgeben?

Sennett: Ich glaube, Geschichten könnten den Leuten helfen, Identität
und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Denn das Bewusstsein dafür, wer wir
sind, ändert sich, es ist kein fixes Bild in einem fixen Rahmen.

Richter: Wenn das Theater sich den neuen Themen annimmt, bekommt es in
der Regel schwere Probleme mit den Interessenvertetern der Wirtschaft oder
bestimmer politischer Parteien. In Zürich hat der Verwaltungsrat -
zusammengesetzt aus Managern und Politikern - ja versucht, ein
künstlerisch sehr erfolgreiches Team, das sehr radikale ästhetische und politische
Entwürfe präsentiert, rauszuwerfen. Der Protest aus der Bevölkerung hat
das abgewendet. Das hat Modelcharakter. Das müssen sich die Schweizer
merken.

Und die Zuschauer, wie reagieren die auf diese Themen?

Richter: Man kann heute von der Welt in aller Schärfe und Brutalität
erzählen und die Leute dabei unterhalten. Der deutsche Dramatiker Rene
Pollesch ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Seine Stücke sind
intellektuelle systemkritische Orgien, inhaltlich sehr radikal, aber
ästhetisch sehr ansprechend. Die Vorstellungen sind immer ausverkauft
und das Publikum tobt.
Man kann der TV-Mainstreamästhetik etwas entegensetzen. Statt schneller
Schnitte und coolem Pop, plötzlich Konzentration und Emotionen, die
nicht abgegriffen oder gesampelt wirken, wie ich das bei dem Stück Die Nacht
singt ihre Lieder von Jon Fosse versucht habe.

Wie befriedigt das Theater das Bedürfnis der Zuschauer nach
Authentizität und nach Vertiefung?

Richter: Je mehr Theater in der Politik und in den Medien stattfindet,
desto weniger findet es im Theater statt: Es gab noch nie so viele
Diskussionsrunden im Theater wie seit dem Terroranschlag auf das World
Trade Center. Viele Theater laden scharfe Denker ein und bitten sie, sich
anschliessend den Fragen aus dem Publikum zu stellen. Wo ist es sonst
möglich, dass ein Bürger überhaupt eine Frage stellen darf und auch
noch eine Antwort bekommt? Weder in der Politik, der Wirtschaft, noch den
Massenmedien. Das Theater muss aufzeigen, was es an
Inszenierungsstrategien ausserhalb des Theaters, in der sogenannten echten Welt, gibt.

Die Leute wollen im Theater wieder aufgeklärt werden?

Richter: Das Bedürfnis des Publikums nach Aufklärung und Reflexion ist
Seit dem 11. September 2001 immens.

Sennett: Die Zerstörung des World Trade Centers war ein optisches
Spektakel. Terrorismus gemacht fürs Fernsehen. Auch eine Art Theater.

Richter: Die stärksten Bilder liefert im Moment zweifellos das
Fernsehen. Kein Film, kein Theater kann so ein Bild, wie diesen ewigen Loop der
einstürzenden Twin Towers schaffen. Das ist selbst ein Film geworden,
der kaum noch als Realität wahrgenommen wird. Aber: Das Fernsehen kann das
Bild nur zeigen, es kann es nicht erklären. Das Fernsehen ist nicht in der
Lage, das System, in dem wir leben, zu erklären, es kann es nur selbst
miterzeugen und als unveränderbar hinstellen und immer wieder abbilden. Pausen und
Schweigen erträgt es ebenso wenig wie komplexe Gedankengänge. Die
Expertenrunden und Talkshows schaffen eher Verwirrung, sind
langweiliges oder hysterisches Durcheinander- und Aneinandervorbeigerede, sie
schaffen keine Klarheit, nur Nebel. Analyse und Erkenntnis: Das kann eben das
Theater.

Sennett: Das Theater ist also zur Agora, zu einem Marktplatz der
Informationen geworden. Das Gegenteil von Brechts Verfremdungseffekt.

Aufklärung, Reflexion, Information - das Theater übernimmt Aufgaben von
den Massenmedien. Das kann es aber nur lokal tun. Sender wie CNN
sichern den Zugang zu Informationen global.

Richter: Die Leute sind skeptisch gegenüber den Medien. Sie wissen, wie
einfach es ist, Bilder zu manipulieren. Jeder kann das heute am
Computer selbst machen. Es ist paradox: Einerseits sind wir von Sendern
wie CNN abhängig, weil wir ohne sie gar keine Informationen und Bilder hätten
von Krisengebieten wie dem Kosovo oder zum Beispiel vom Krieg in
Afghanistan. Anderseits trauen wir diesen Informationen nicht mehr.

Wie gehen Sie persönlich mit diesem Konflikt um?

Richter: Ich versuche, mir selbst ein kritisches Schauen
anzutrainieren, den Bildern zu misstrauen oder zu verstehen, warum CNN zu genau diesem Zeitpunkt jetzt diese Bilder zeigt und nicht andere. Ein einfaches Beispiel: Die
einstürzenden TwinTower sind nach werbeästhetischen Kriterien als Loop
aufbereitet worden, sie laufen in Zeitlupe mit pathetischer Musik
unterlegt wieder und wieder, dazu sehen wir ebenfalls in Zeitlupe weinende
Feuerwehrmänner, die vergeblich nach ihren Kollegen suchen. Diesen Loop
sehen wir noch immer fast täglich. Das Bild erklärt die Tat nicht, es
implantiert eine kollektive Wunde, die die Bush-Administration nach
Belieben instrumentalisieren kann.
Als die USA Afghanistan angegriffen haben, zeigte CNN ein verwaschenes
grünes Videobild, auf dem nichts zu erkennen war. Kriege, die die Nato
oder die USA im Alleingang führen, sind medial unsichtbar. Wir sollen deren
Folgen nicht sehen. Dann lesen wir in der Zeitung, dass die
amerikanische Luftwaffe über Aghanistan Vernichtungswaffen abwirft, die alles im
Umkreis von 600 Metern vernichten und wir hören, dass Kinder massenweise
sterben, weil sie die gelben Minen und die gelben Carepakete, die dort
abgeworfen wurden, verwechseln. Aber die Bilder dazu sendet niemand. Wenn man mir
also wieder diesen Loop von den einstürzenden Türmen vorsetzt, muss ich
diese verbotenen Bildern hineindenken, ich muss die Bilder, die CNN mir nicht
zeigen will, trotzdem sehen.Ich muss versuchen, das medial Unsichtbare
zu sehen.

Richard Sennett, eine letze Frage: Glauben Sie, dass die weltweite
Wirtschaftskrise die Weiterentwicklung der Globalisierung beeinflusst?

Sennett: Nein, das wäre unrealistisch. Der Kapitalismus wird deswegen
nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Der Export von schlecht bezahlten
Arbeitsplätzen, das globale Börsensystem und andere wichtige Elemente
der Globalisierung werden weiterhin existieren. Was meinst Du Saskia?

Saskia Sassen (sieht vom Computer auf, an dem sie die ganze Zeit
E-Mails gelesen und beantwortet hat): Nein. Die Zahl der wirtschaftlichen
Aktivitäten schrumpft zwar zurzeit. Einige der profitmachenden
Teilnehmer brechen zusammen. Aber das System wird deswegen nicht als Ganzes in Frage gestellt.

Richard Sennett im Gespräch mit Falk Richter, aufgezeichnet von Maja Peter
Anfang 2003

 

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Zuletzt überarbeitet 15.10.2004 Copyright 2003 bei b222.de und den Künstlern. E-Mail: b222 at b222.de
 
Texte: Sennett - Richter