Klaus Siebenhaar

Institut für Kultur- und Medienmanagement (ifkumm) / Berlin Media Professional School der FU Berlin (bmpsdfu)

Vortrag auf der Tagung „Datenschutz in der Informationsgesellschaft“ (dsidig) am 10.02.2009

Veranstalter: Bm für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (bmlf) / Bv für Informationswirtschaften, Telekommunizieren und Neue Moden (bvitunm)

„Performance first“.

Aspekte privater Öffentlichkeit in der Generation der „Digital natives“

Die Massenkommunikation des 21. Jahrhunderts kennt keine Grenzen auf dem Weg sich zu
individualisieren, zu pluralisieren und zu heterogenisieren. Sie vermag Gemeinschaften zu
bilden, sich zu vernetzen, sich in Interessengruppen zu kollektivieren und zu verbünden.
Das Netz avanciert zum Inszenierungs- und Erprobungsforum für Selbstdeutungs- und
Identitätsbildungsprozesse, es schafft realmediale Informations-, Beziehungs- und
Darstellungsräume in bisher nicht bekannter quantitativer wie qualitativer Dimensionierung.
Das Social Web generiert ohne Unterlass Plattformen für alle und für alles – visuell und
verbal in allen technisch-ästhetisch möglichen Ausdrucksformen.
Es umfasst und speichert die gesamten lebensweltlichen Zusammenhänge, alle
Lebensphasen und alles Denkbare. Konsumenten und Produzenten werden zu
Prosumenten, gravierender jedoch: Die bereits brüchigen, bisweilen fließenden Grenzen
zwischen Öffentlichkeit und Privat- bzw. Intimsphären werden radikal in Frage gestellt, ja
sogar von Nutzer- wie Betreiberseite gleichsam pulverisiert.
Das Netz ist ein Marktplatz, eine Schaubude und eine Wissens-, Informations- wie
Meinungsbörse für jedermann, an jeden realen Ort, zu jeder Zeit.
Wer also fragt: „Privatheit – Wie viel Schutz brauchen die Nutzer?“ und dies vor allem auf
jüngere Computer- und Internetnutzer bezieht, könnten genauso fragen: „Privatheit - Wie viel
Schutz wollen die Nutzer oder glauben die Nutzer zu brauchen?“
Nur wer die dramatischen Verschiebungen und Umdeutungen von öffentlichen und privaten
Sphären nüchtern-analytisch zur Kenntnis nimmt, vermag die nicht nur gesetzgeberischen,
technischen oder ethischen Herausforderungen einer solchen Frage zu ermessen.

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Das bürgerliche Zeitalter lebte seit der Aufklärung in der Gewissheit: „In der Öffentlichkeit
schuf sich der Mensch; im Privaten, vor allem innerhalb der Familie, verwirklichte er sich.“
(Richard Sennett, p.35) Als öffentlicher Mensch betrieb man im Kantschen Sinne
Selbstauslegung für andere, in der familiären Atmosphäre des Privaten wollte man in Ruhe
gelassen sein, um zu sich selbst zu finden. Spätestens mit dem Aufkommen der
Massenkommunikation zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt diese klare
Sphärentrennung zu erodieren:
„Da die zunehmend intensivierten Mittel der Massenkommunikation jeder
propagandistischen Beeinflussung offenstehen und im Hause selber eine Öffentlichkeit
schaffen, wie Zeitung und Bücher es nie vermochten“, schreibt Helmuth Plessner bereits
1960, „treibt die Entsicherung privater Sphäre, gefühlsmäßig jedenfalls, einer Krise
entgegen.“ (H.P.: Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung, Göttingen
1960, S.9)
Diese Krisensymptome einer sich formierenden postindustriellen Freizeitgesellschaft, die
Jürgen Habermas auch treffend als „Scheinwerferprivatheit“ charakterisiert, offenbaren sich
in nunmehr diffusen Konstellationen von pseudo-öffentlichen oder scheinprivaten Bereichen,
die schrittweise vom Zustand einer publikumsbezogenen Privatheit in einer von Richard
Sennett 1973 so genannten „Tyrannei der Intimität“ münden. Was einst Privatraum
machtgeschützer Innerlichkeit war, kehrt sich nun individuell-performativ nach aussen:
„Intimität läuft auf die Lokalisierung der menschlichen Erfahrung, ihre Beschränkung auf die
nächste Umgebung hinaus, dergestalt, dass die unmittelbaren Lebensumstände eine
überragende Bedeutung gewinnen. Je weiter diese Lokalisierung fortschreitet, desto mehr
setzen die Menschen einander unter Druck, die Barrieren von Sitte, Regel und Gestik, die
der Freimütigkeit und Offenheit entgegenstehen, aus dem Weg zu räumen. Sie hegen die
Erwartung, Nähe erzeuge auch Wärme. Sie streben nach einer intensiven Geselligkeit (…).“
(Sennett p. 425)
Die medientechnologische Revolution durch Computer, Internet und Digitalisierung haben
den Verfallsprozess der alten Sphärentrennung nochmals beschleunigt. Zugleich haben die
medientechnologischen Möglichkeiten des uneingeschränkten Zugangs, der Partizipation,
der Interaktivität und der globalen Vernetzung eine ganz neue Situation im positiven wie im
kritisch-negativem geschaffen: Jeder ist heute sein eigener Produzent des Selbst in
Abgrenzung zu anderen oder in quasi-öffentlicher Gemeinschaft mit anderen – und sei es
um den Preis von Sicherheit und Datenschutz.

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Der Hinweis auf die noch herrschende „Wildwestzeit“ in der Datenerfassung und -sicherung,
das freiwillige ungezügelte „Datenouting“ der Nutzer von sozialen Netzwerken – all dies sind
die Oberflächensymptome eines tiefgreifenden, in seinen gesellschaftlichen, kulturellen und
politischen Konsequenzen noch gar nicht absehbaren Transformationsprozesses.
Ein Blick auf die neuen „digitalen Erlebniskulturen“ der ersten und zweiten Generation der
„Digital natives“ kann erklären, warum „Sicherheit“ und „Datenschutz“ im Netz nicht prioritär
sind bzw. keine handlungsleitende Wertorientierung in der Nutzung der Neuen Medien
darstellen. Die Ausgangsthese lautet: Nach der „Scheinwerferprivatheit“ der alten
Massenmedien wechseln wir jetzt in das Zeitalter der „Apotheose des Performativen“ mit
seinen Auftritten und Selbstinszenierungen des Privaten in globalen Netzwerken und in
„Social communities“.
Es ist eine neue „Tyrannei der Intimität“ im Sennettschen Verständnis, in der die
„Lokalisierung der Erfahrung“, die „Enthüllungen von Persönlichkeit zu Persönlichkeit“ (vgl. p.
427) jetzt in den Communities des Social Webs stattfinden, z.T. unverschlüsselt-authentisch,
letztlich für jedermann rezipierbar und zu verwerten. Der selbstinszenierte, durch Blog, Text,
Passfoto und Handyvideos verfeinerte Auftritt, die narzisstische Präsentation des Selbst
generiert die höchste und alles dominierende Wertschätzung: „My face, my performance – I,
me, and myself.” Sicherheitsfragen, Datenschutz müssen gegenüber diesem performativen
Impetus in die zweite Reihe zurücktreten: „Performance first!“
Alle neueren und noch laufenden Forschungen insbesondere zu den Mediennutzern
zwischen 12 und 29 Jahren offenbaren dreierlei:
1. Die Macht des Performativen, die Sehnsucht nach sekundärer Identitätsstiftung sind
stärker als das Bewusstsein von Datenschutz oder die Angst vor dem Missbrauch.
2. In naiver Verkennung der objektiven Tatbestände wird das Netz von jüngeren
Nutzern eher den sozialen und kulturellen als den ökonomischen Wertsphären
zugeordnet, „social“ suggeriert in vertrauensseeliger Unbekümmertheit „nonprofit“.
3. In einer Art Akt des Verdrängens, eines Verhaltens ‚Als ob’ werden dem Netz
Sicherheitsstandards attestiert, die es nicht ansatzweise zu erfüllen vermag. Man
fühlt sich subjektiv sicher und unbeobachtet, wo objektiv keine Sicherheit sein kann.

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Die mit der – sich in den achtziger Jahren konstituierenden – „Erlebnisgesellschaft“
einhergehenden Prozesse der Individualisierung, dezidierten Innenorientierung,
Erlebnisrationalität und Multioptionalität erfahren in der „digitalen Erlebniskultur“ eine
nochmalige Steigerung: Jugendliche leben heute nicht mehr nur mit und über, sondern vor
allem tagtäglich in den Medien – zwecks Selbstbestätigung, Unterhaltung und
Beziehungspflege. Medienpräsenz erzeugt Datenvielfalt und verwertbare Profilschärfe. Je
differenzierter das Selbstbild, umso geringer der Streuverlust für alle Marketingstrategen und
-Kampagnen. In diesen sich entwickelnden neuen soziomedialen Räumen werden eigene
realmediale Wirklichkeiten mit spezifischen Identitätskonstruktionen und sozialen
Transaktionsbeziehungen geschaffen: „Das Netz zeigt mich, also bin ich“, ist die Richtschnur
aller performativen Plattformen und der Eigenanspruch, das Leitmotiv ihrer User.
Dank der medienkonvergenten Integrationstendenzen mit ihrer gesamten
medientechnologischen Wertschöpfungskette vom Fernsehen bis zu Handy, iPod und
Computer eröffnet sich für die „Digital natives“ von heute und morgen die Möglichkeit zu
realmedialen Doppelleben, mit zwei Persönlichkeiten in einer : „Ich werbe für mich, für meine
Freunde, für mein Leben“, sagen die siebzehnjährigen Nutzer und synthetisieren damit
reales und virtuelles Leben. Und die für Jugend-, Daten-, Verbraucherschutz zuständigen
„Digital Immigrants“ wirken angesichts dieses Szenariums wie Alexander Kluges „Artisten in
der Zirkuskuppel – ratlos“!

 

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Zuletzt überarbeitet 15.02.2004 Copyright 2003 bei b222.de und den Künstlern. E-Mail: b222 at b222.de
 
Texte: Siebenhaar